Eine sinnlich spürbare Beständigkeit

Schon die Idee und die Geschichte der Internatsschule Salem zeugt von Beständigkeit. Im Jahre 1920 von dem Pädagogen Kurt Hahn zusammen mit dem letzten Kanzler des Deutschen Kaiserreiches, Prinz Max von Baden, gegründet, ist das Bildungsziel der Einrichtung bis heute die Einheit von Erziehung und Unterricht, von Leben und Lernen. Diese Einheit auch baulich umzusetzen, war Ziel des Wettbewerbs, der 1996 für den Neubau des Campus in Härlen ausgeschrieben wurde (wa-2000690). Für die Umsetzung stand ein zehn Hektar großes Grundstück mit Sichtbezug zum Bodensee inmitten einer von Feldern und Obstwiesen geprägten hügeligen Landschaft zur Verfügung.  
Im Entwurf des Stuttgarter Architekturbüros Lederer + Ragnarsdóttir + Oei war der Erhalt der Sichtachsen zum See bei der Organisation der Bauten ausschlaggebend, sollten sie doch die beeindruckende Aussicht rahmen. Eine weiße, kolonnadenartige Struktur umfasst – ähnlich einem Kreuzgang – das Zentrumsgebäude, schwingt sich an ihm geschmeidig vorbei, zeichnet dabei in einem weiten Bogen die Hangkante nach und öffnet mit generöser Geste den Blick auf den tiefer liegenden Bodensee. Bereits hier offenbart sich Lederers vertieftes Verständnis für den jeweiligen Standort.

Salem International College, Überlingen | Luftfoto: wa wettbewerbe aktuell/2000


Sein Gespür für die Umgebung wird aber vor allem in der räumlichen Organisation der baulichen Einheiten deutlich, wie auch bei der Berufsakademie Lörrach (wa-2007606) oder der Landesbibliothek Stuttgart (wa-2011619). In Salem besteht der gesamte Komplex aus einem Zentrum, in dem die Verwaltung und die
öffentlichen Räume wie Aula, Mensa und Bibliothek untergebracht sind, einem Unterrichtsgebäude und den etwas abseits an zwei Gassen liegenden Gemeinschaftswohneinheiten. Das Zentrum selbst ist ein zweigeschossiger Bau, der von zwei großen Treppenanlagen und Rampen flankiert wird.  
Differenzierte Innen- und Außenräume mit vielfältigen Bezügen lassen insgesamt ein städtisches Gefüge aus öffentlichen und privaten Räumen entstehen, die dennoch deutlich voneinander unterschieden werden. Und das aus gutem Grund: „Warum sollen wir in Gebäude gehen, die beim Betreten sagen, man sei wieder draußen?“, so Lederer. Eine räumliche Klarheit im Kleinen wie im Großen war für ihn die Grundvoraussetzung eines gelungenen und humanen städtischen Lebens.
Der Campus erscheint dabei auf den ersten Blick rational entworfen, voller Logik, Methode und Strenge, um auf den zweiten Blick eine baukörperliche Formenwelt zu entfalten, die sich mit der reinen Funktion nicht mehr erklären lässt. Im Gesamtwerk Lederers und auch in Salem zeigen sich historische oder kulturräumliche Zitate, die etwas verfremdet als narrative Elemente das Bauwerk unverwechselbar machen.
Im Widerstand zu einer rational-abstrakten und technisch-gläsernen Moderne erfüllte Lederer mit seinen Beton- und Ziegelarchitekturen die Grundbedürfnisse des Menschen nach Raumerlebnis, Orientierung und Sinneserfahrung. In Salem wie auch in vielen anderen Bauten wird durch die reduzierten Bauformen und die atmosphärische Lichtsetzung eine archaische Körperhaftigkeit sinnlich erfahrbar. Allesamt sind es städtebauliche Gesamtkompositionen, die auf besondere Art den exponierten Stadt- oder Landschaftsraum besetzen. Die Schule in Salem steht wie auch das Historische Museum in Frankfurt (wa-2009354) beispielhaft für ein Werk, das von einer historisch informierten Moderne zeugt, die auf eine haptische Qualität der Materialien setzt, den Einsatz von Farbe wagt und Mut zum
besonderen Detail zeigt.
„Jeder Entwurf ist ein Abbild der Wertvorstellung des Urhebers“, so Lederer in einem Kommentar zum Wettbewerb des Museums des 20. Jahrhunderts in Berlin (wa-2013998). Und so werden seine Bauten auch seinem Anspruch an Nachhaltigkeit gerecht, denn sie versprechen mit ihrem Ortsbezug, ihrer Gestaltung und Materialität eine Beständigkeit, die mit allen Sinnen spürbar ist.

Alexandra Apfelbaum, Februar 2023


Alexandra Apfelbaum | © Daniel Sadrowski

Alexandra Apfelbaum

Dr. Alexandra Apfelbaum ist seit 2009 als freiberufliche Kunst- und Architekturhistorikerin tätig. Seit 2018 hat sie die Vertretungsprofessur für Geschichte und Theorie von Architektur und Stadt an der Fachhochschule Dortmund inne.
Ihr Schwerpunkt sind Forschungen zu den Schnittstellen von Architektur und Kunst des 20. Jhs. mit Fokus auf NRW und der Nachkriegszeit. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Initiative Ruhrmoderne.
Jüngere Publikationen:
• JPK NRW. Der Architekt Josef Paul Kleihues in Nordrhein-Westfalen, hg. von Alexandra Apfelbaum, Silke Haps und Wolfgang Sonne, Dortmund 2019
• Von Stahlschachteln und Bausystemen. Zum Umgang mit Stahlbauten der Nachkriegszeit, hg. von Alexandra Apfelbaum und Silke Haps, Dortmund 2019.