Der neue Campus der Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Jahrzehntelang gab es in der Bundesrepublik keine Neugründungen und Neuplanungen von Universitäten. In Frankfurt am Main stellte sich 2001 diese Aufgabe: Die geisteswissenschaftlichen Institute der Goethe-Universität zogen in das denkmalgeschützte IG-Farben-Hochhaus im Stadtteil Westend. Damit übernahm die Universität ein Gebäude von herausragender architektonischer Qualität. Diese Chance hatte sich als Folge der politischen Ereignisse nach 1989 eingestellt: Das als Verwaltungssitz des IG-Farben-Konzerns von Hans Poelzig 1929 errichtete, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Hauptquartier der V. US-Armee genutzte Ensemble wurde mit dem Rückzug der Amerikaner aus Deutschland frei. Für die Universität eröffnete sich die einmalige Gelegenheit, an einem attraktiven Standort in der Stadtmitte einen komplett neuen Campus zu entwickeln. An dieser epochalen Aufgabe beteiligten sich im Jahr 2003 in einem offenen städtebaulichen Wettbewerb 193 Büros.


Masterplan Campus Goethe-Universität Frankfurt am Main | Ferdinand Heide mit Topos, Berlin

In unserer preisgekrönten städtebaulichen Konzeption und in der Komposition der Baukörper behielt das IG-Farben-Hochhaus seine zentrale Bedeutung: Die denkmalgeschützte achsiale Freianlage, in deren Mitte sich das Casino befindet, wurde über zwei „Grünspangen“ und über das zentrale Band nach Norden fortgesetzt. Das IG-Farben Hochhaus blieb auch in der Höhenentwicklung die Dominante und Stadtkrone im Sinne Poelzigs. Klare Baukörper von einheitlicher Höhe greifen die Materialität der Poelzig-Bauten auf, stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander und erzeugen Urbanität und Dichte. Die neue Mensa und das Hörsaalgebäude sind an einem Platz gelegen, der als Pendant zum zentralen Wasserbecken der unteren Ebene die neue Mitte des oberen Plateaus darstellt. Architektur und Struktur der Gebäude auf dem Campus sind geprägt von der Idee des Ensembles mit den Poelzig-Bauten und der Idee der Hochschule als Ort der Kommunikation und des Austausches. Die klare, städtebauliche Ordnung schuf einen Campus mit integrativer und ganzheitlicher Qualität. Bis zum heutigen Tag werden die in unserer Masterplanung und im Anschluss an den Wettbewerb festgeschriebenen Ziele erfolgreich weiterverfolgt. In inzwischen vier Bauabschnitten wurden jeweils auf Basis von Realisierungswettbewerben für jede Bauaufgabe die besten Lösungen ausgewählt. Die neuen Institutsgebäude der Architekten Müller/Reimann (wa-2009241), Staab (wa-2008339), Kleihues (wa-2008270), Böge/Lindner (wa-2013883), K9 (wa-2012427) und Weinmiller liegen am Rand des Areals und bilden jeweils eine Kante zur Stadt beziehungsweise zur westlich angrenzenden öffentlichen Parkanlage. Sie flankieren die Mitte aus Hörsaalzentrum, zentralem Campus-Platz und Mensaerweiterung. Bei Hörsaalgebäude und Mensa, die aus unserer Feder stammen, wurde das städtebauliche Konzept von aufeinander abgestimmten aber dennoch eigenständigen Häusern weiterentwickelt. Das Hörsaalzentrum verkörpert als Gebäudetypus die Idee der Universität. Es bildet das Zentrum der neuen Universität und ist der Ort, an dem alle Studierenden zusammenkommen und sich fachübergreifend austauschen. Die repräsentativen Säle dienen auch der Stadt als Veranstaltungsräume insbesondere die großen Hörsäle, alle mit ansteigendem Gestühl, mittig teilbar, innen liegend aber dennoch über tiefe Fenster seitlich mit Tageslicht versorgt. Ihre Architektur reagiert konzeptionell auf die Architektur Poelzigs, aber in einer eigenen, zeitgemäßen Interpretation: Große verglaste Öffnungen, die innen und außen miteinander verzahnen, stehen im Wechsel mit geschlossenen Natursteinflächen. Bedeutende Funktionen wie Foyer, Hörsäle oder Speisesaal zeichnen sich durch besondere Öffnungen nach außen ab, erzeugen ein spannungsreiches Spiel in den Fassaden und den Bezug zum Park. Toskanischer Travertin verleiht den äußeren Hüllflächen eine lebendige, stark strukturierte Oberfläche und gibt den tiefen Laibungen der Öffnungen eine scharfkantige Kontur. Anders als kolportiert, gab es zur Materialität der Gebäude in keinem der Wettbewerbe bindende Vorgaben, deren Wahl lag jeweils im Ermessen der Verfasser *innen.
Es ist einerseits ein großer Erfolg, dass der von Beginn in das Projekt getragene „Dialog mit Poelzig“ in allen Abschnitten bisher Berücksichtigung fand. Gleichwohl zeichnete sich in den letzten Jahren aber auch eine gewisse Tendenz ab, weil in den Folgeverfahren eher ein vermeintlich erfolgreicher Typ bedient wurde anstelle des Versuchs einer kreativen Interpretation. So wünschen wir uns weiterhin für die bauliche Weiterentwicklung des Campus eine gestalterische Vielfalt, wie sie sich im 1. Bauabschnitt abzeichnete.

"Ohne ein offenes Wettbewerbsverfahren wären eine Teilnahme und dieser Erfolg nicht möglich gewesen."


Die Planungen für den Campus Westend waren für uns im offenen großen Teilnehmerfeld ein außergewöhnlicher Glücksfall. Ohne ein offenes Wettbewerbsverfahren wären eine Teilnahme und dieser Erfolg nicht möglich gewesen. Der ursprüngliche Wunsch – 2018 zum hundertjährigen Bestehen der Universität – so viel wie möglich realisiert zu haben, wurde weitgehend erreicht. Dennoch bleibt in der von Süden nach Norden verlaufenden Campus-Entwicklung noch viel Raum für die bauliche Entwicklung der Universität. Auf Basis von Wettbewerben und mit dem Anspruch einer architektonischen Vielfalt in derstädtebaulichen Einheit.

Ferdinand Heide, März 2024

Ferdinand Heide



Ferdinand Heide

1962 geboren in Frankfurt am Main
1982 – 1989 Architekturstudium TU Darmstadt, HdK Berlin
1987 – 1991 Mitarbeit im Büro James Stirling & Michael Wilford, Berlin
1991 Bürogründung in Berlin (1991) und Frankfurt am Main (1992)
1998 – 1999 Lehrauftrag für Entwerfen und Baukonstruktion an der TFH Berlin
2002 Mitglied des Städtebaubeirats der Stadt Frankfurt am Main
2016 – 2020 Mitglied des Gestaltungsbeirats der Stadt Saarbrücken