Eine zeitreise mit Jan Kleihues, Götz Kern und Eva Grubinger, Juli 2024
Wie wertvoll und besonders die Erfahrung – aucheines verlorenen Wettbewerbs – sein kann, zeigen bisweilen Projekte, die aus dem Raster der üblichen Tätigkeit des Architekten herausragen und multidisziplinäre Aspekte zulassen bzw. integrieren, die das gewohnte Spannungsfeld unserer Arbeitsweise aufbrechen. In der Ausformulierung einer zeitlosen Antwort auf eine abstrakte architektonische Fragestellung führte die Symbiose der Künste, hier mit der herausragenden Bildhauerin Eva Grubinger, zu einem nicht nur symbolträchtigen Ergebnis, sondern auch zu einem Kunstwerk, das, wie wir auch heute noch anerkennend feststellen dürfen, nur aus dem Schmelztiegel dieser Zusammenarbeit hervorzubringen war.
Als der Bundestag am 9. November 2007 beschlossen hat, zum Gedenken an die „Friedliche Revolution“ im Herbst 1989 und an die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands ein Denkmal zu errichten, hieß es gut zwei Jahre später bei dem international ausgelobten Wettbewerb herausfordernd und reizvoll: „Seine Aussagekraft und Wirkung sollen sich über die Form und Gestalt entfalten.“ Als Standort wurde – nicht ganz unproblematisch, wie sich erweisen sollte – der Sockel des ehemaligen Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I. auf der Schlossfreiheit festgelegt. Freiheit und Einheit, so der auch vom Politischen getragene Entwurfsgedanke, sind universelle Werte, die national zu denken aus unserer heutigen Sicht anachronistisch ist. Die Ostdeutschen holten sich am 9. November 1989 eine der wichtigsten Freiheiten – die Freiheit, jeden Staat, einschließlich seinen eigenen, ohne Gefahr und Verlust verlassenzu können – zurück. Nationalismen, insbesondere der letzten Jahrhunderte, verstanden unter Freiheit jedoch keineswegs die Freiheit des einzelnen Individuums innerhalb dieser befreiten Nation, sondern oft nur die errungene Hegemonie eines Staates gegenüber einem anderen Staat. Der absolutistisch-neobarocke Sockel des Wilhelminismus sollte uns gerade daran schmerzvoll erinnern. In diesem Sinne ist das neue Denkmal mit seiner formalen Bezugnahme auf die Revolutionsarchitektur, welche den Klassizismus im Sinne der Aufklärung in Richtung Demokratie und Moderne führte, eine angemessene künstlerische Setzung für ein freies, vereintes und offenes Deutschland.
Rein formal stellt das Denkmal für Freiheit und Einheit auf der Berliner Schlossfreiheit eine 25 m hohe, minimalistische Skulptur in Form einer Kugel dar, welche aus zwei gleich großen Halbschalen besteht. Zwischen den beiden Schalen ist eine 1,20 m breite Öffnung, die Licht in die Kugel einfallen lässt und so den Innenraum mit dem Außenraum verbindet. Die Idee der gespaltenen Kugel, die begehbare Skulptur, schafft einen symbolischen Raum, der ein Einswerden mit seiner Größe und eine nicht greifbare, unfassbare Empfindung von Erfüllung evoziert – die Spaltung wird überwunden. Im Innern können die Gedanken kreisen, die Wahrnehmung läuft entlang der Wände, kann weder aufgehalten noch vorgegeben werden – die Sphäre als Ort der Kontemplation. Auch äußerlich wirkt die Kugel auf ihre Umgebung in alle Richtungen gleichmäßig – und fügt sich dennoch nicht ein – ein Einzelgänger. Nicht nur aus praktischen, sondern auch aus ästhetischen Gründen eignet sich der Kreis daher vorwiegend als Solitär. Die Kugel als ein perfekter geometrischer Körper repräsentiert ein Ideal, welches – analog zu den Begriffen Freiheit und Einheit – angestrebt wird, ja vielleicht schon in vielen Bereichen Realität geworden ist, doch in ihrer Absolutheit gedacht immer eine Utopie bleibt. In ihrer Gestalt wird die Kugel als ein zusammengehöriger Körper wahrgenommen, doch besteht sie aus zwei gleichberechtigten, einander zugewandten Teilen. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis und vergegenwärtigen das bipolare Prinzip von Abstoßung und Anziehung, von dem das Ringen sowohl um Freiheit als auch um Einheit geprägt war und ist. Zugleich verweist sie auf Dynamik, Prozess und Veränderung. Ideale, Werte und Errungenschaften sind nicht ein für alle Mal festgeschrieben, sondern müssen in einer sich ständig verändernden, globalisierten Welt immer wieder neu behauptet und eingefordert werden. Kurzum: Jeder Kreis ist auch ein Statement. Der Kreis ist Urform und Anfang und Ende zugleich. Eine zeitlose Antwort.
Prof. Jan Kleihues arbeitete zunächst bei Peter Eisenman, Daniel Liebeskind und Rafael Moneo, bevor er 1992 sein eigenes Büro aufbaute.
1996 gründeten er und Josef Paul Kleihues mit Norbert Hensel das Büro Kleihues + Kleihues. Nach verschiedenen Gastprofessuren lehrt er seit 2011 an der Potsdam School ofArchitecture.
Götz Kern studierte an der HdK Berlin und an der ETH Zürich Architektur und arbeitete zunächst in den Büros Hans Kollhoff und Bernd Albers, später bei Jan Kleihues und Josef Paul Kleihues. Im Büro Kleihues + Kleihues ist er seit knapp 30 Jahren als Projektleiter tätig, seit 2015 ist er dort Partner. Er arbeitete an diversen Großprojekten des Büros mit, u.a. dem Kaufhof und Hochhaus am Alexanderplatz (wa-2013419) sowie dem FÜRST, ehem. Ku’damm Karree.
Eva Grubinger wurde 1970 geboren und studierte an der HdK Berlin. Ihre Arbeiten befinden sich in zahlreichen öffentlichen Sammlungen, darunter der Berlinische Galerie, dem Museum Abteiberg Mönchengladbach, dem ZKM, Karlsruhe, dem Kunsthaus Bregenz, dem Museum der Moderne, Salzburg, dem mumok und dem Belvedere, Wien.