Eine unendliche Geschichte – Stuttgart 21

Im Frühjahr 1997 bin ich als junger Architekt nach einjähriger Mitarbeit im Büro von Françoise Jourda und Gilles Perraudin von Lyon nach Stuttgart gezogen, um dort eine Anstellung im Büro Kaag + Schwarz zu beginnen. Beflügelt von der sehr anregenden Arbeitsatmosphäre in Lyon habe ich mich seinerzeit mit großem Elan an die Arbeit in dem aufstrebenden Büro von Werner Kaag und Rudolf Schwarz gemacht. Das Büro hatte sich in den 1990er Jahren mit großem Erfolg an zahlreichen Wettbewerben beteiligt und überzeugte mich insbesondere dadurch, dass sich die hohe Qualität der Wettbewerbsentwürfe auch bei den realisierten Projekten wiedergefunden hat. Dies ist ja beileibe keine Selbstverständlichkeit, denn der schwierigere Teil der Architektenarbeit beginnt ja bekanntermaßen nach dem gewonnenen Wettbewerb. Erst in der gelungenen baulichen Umsetzung einer mit leichter Hand hingeworfenen Wettbewerbsidee zeigt sich die eigentliche Meisterschaft unserer Profession.
Bei Kaag + Schwarz war es üblich, dass man parallel zum laufenden Projekt an Wettbewerben gearbeitet hat. Eine Spezialisierung auf das Eine oder das Andere war nicht vorgesehen. Dies mag rückblickend auch Ausdruck für den Anspruch des Büros gewesen sein, dass für das Entstehen von guter Architektur eine durchgängig engagierte Bearbeitung, von der ersten Skizze bis zum fertigen Bauwerk, essentiell ist. Auch mein heutiger Büropartner Thorsten Kock und ich haben uns während unserer
gemeinsamen Zeit im Büro Kaag + Schwarz diese Denkweise zu eigen gemacht.
Wenngleich wir heute in unserem Büro ein eigenständiges Wettbewerbsteam haben, so erscheint es uns doch sehr wichtig, dass unsere Projekte durch alle Leistungsphasen hindurch mit hoher Intensität und Kontinuität bearbeitet werden. Ein für sich genommen guter Entwurf kann durch unzureichende Detaillierung oder achtlose Materialisierung sämtliche Qualitäten verlieren.

Ob für eine solch umfangreiche und anspruchsvolle Bauaufgabe wohl auch heute noch ein offener Wettbewerb ausgelobt werden würde? Vermutlich würde eher ein handverlesenes, kleines Teilnehmerfeld mit einschlägiger Erfahrung im Bahnhofsbau die Sache unter sich ausmachen.


Eines Tages bekam ich von Rudolf Schwarz zusätzlich zu meinem Tagesgeschäft die Wettbewerbsauslobung für den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofes auf den Tisch gelegt. Ein offener Wettbewerb in zwei Phasen (siehe wa 09/1997), an dem sich schließlich 126 Architekturbüros beteiligt haben. Die Gleisgeometrie war in Grundriss und Schnitt vorgegeben, so dass es letztlich im Kern darum ging, eine Idee für die Überdachung und die Erschließung der tiefergelegten Bahnsteige zu entwickeln. Zudem sollte ein Umgang mit dem seiner Funktion beraubten Bonatzbau gefunden werden.
Ob für eine solch umfangreiche und anspruchsvolle Bauaufgabe wohl auch heute noch ein offener Wettbewerb ausgelobt werden würde? Vermutlich würde eher ein handverlesenes, kleines Teilnehmerfeld mit einschlägiger Erfahrung im Bahnhofsbau die Sache unter sich ausmachen. Doch ist nicht diese von Sicherheitsdenken geprägte Praxis im öffentlichen Vergabewesen ein absoluter Innovationskiller? Routinemäßig vorgetragene Entwürfe der Etablierten behindern den Fortschritt und stehen damit dem Kernanliegen eines Architektenwettbewerbs als Wettstreit um die beste Idee diametral gegenüber. Die Jury unter Vorsitz von Klaus Humpert hatte jedenfalls das Privileg, unter einer sehr großen Vielfalt an Arbeiten auswählen zu dürfen. Unser Vorschlag, den Bahnhof mit einem Feld von Kuppeln zu überdecken, ist vom Preisgericht recht schnell aussortiert worden.
Nach zwei Bearbeitungsphasen wurde eine gleichrangige Preisgruppe von vier sehr unterschiedlichen Arbeiten gefunden. Drei der Beiträge schlugen dabei glasüberdeckte, leichte Tragwerke über den Gleisen vor.

Preisgruppe / Gewinner nach Überarbeitung  Ingenhoven · Overdiek · Kahlen und Partner, Düsseldorf

Von der eher rationalen Glaskiste (Jürgen Hermann und Stefan Öttl) über ein serielles Bogentragwerk (Wörner + Partner) hin zum aerodynamisch geformten Shape (Planungsgruppe IFB) reichte die Auswahl. Einzig der damals 37-jährige Christoph Ingenhoven ging mit seinem Team einen anderen Weg. Bei den von ihm vorgeschlagenen betonierten Kelchstützen verschmelzen Dach, Stütze und Oberlicht zu einer unverwechselbaren Raumgestalt. Das einfallende Tageslicht modelliert die frei geformte Geometrie des Tragwerks. Eine sehr verführerische Synthese von Ingenieurskunst und Poesie, deren Charme sich auch das Preisgericht nicht entziehen konnte. Und so hat sich das Projekt von Ingenhoven in einer weiteren Überarbeitung schließlich durchgesetzt.
Vermutlich ahnte er zum damaligen Zeitpunkt nicht, dass dies nur der Beginn einer unendlichen Geschichte war, die auch 26 Jahre später noch nicht zu Ende erzählt ist.
Die politische Sprengkraft dieses Großprojektes in der Stuttgarter Innenstadt war immens. Massive Bürgerproteste, Volksabstimmung und Schlichtungsverfahren folgten. Der Baubeginn datiert im Jahr 2010, also stolze 13 Jahre nach der Wettbewerbsentscheidung. Im Zuge dieser Turbulenzen kamen in der traditionell konservativen Region mit Winfried Kretschmann und Fritz Kuhn zwei Grüne Politiker an die Hebel der Macht und mussten nun das Projekt realisieren, welches sie eigentlich gar nicht gewollt hatten. Ein Projekt, das in Politik und Zivilgesellschaft bis heute sehr emotionsbehaftet diskutiert wird. Aber auch ein Projekt, bei dem man lernen konnte, wie wichtig Diskussionskultur und Beteiligungsprozesse bei öffentlichen Bauvorhaben sind.
Nun, weitere 13 Jahre später, wurde im Juni 2023 die letzte Kelchstütze gegossen. Den beinahe fertiggestellten Rohbau konnte ich vor Kurzem in Augenschein nehmen. Die im Wettbewerb versprochene Raum- und Lichtwirkung wurde beeindruckend umgesetzt, der dafür erforderliche bauliche Aufwand ist allerdings immens. Aber handelt es sich beim neuen Stuttgarter Hauptbahnhof – nicht nur aufgrund seiner langen Planungs- und Bauzeit – letztlich doch um ein Jahrhundertprojekt, welches einen solchen Aufwand rechtfertigt? Diesen langwierigen Planungs- und Bauprozess durchzustehen, erfordert gewiss Mut und Ausdauer von allen Beteiligten. Doch auch der Eiffelturm, das Centre Pompidou oder die Elbphilharmonie wurden trotz heftigen Gegenwinds realisiert. Alle drei Projekte verbindet jedoch die Tatsache, dass am Ende die große Mehrheit mit Stolz auf das vollbrachte Werk blickt. Insofern sollten wir nicht verzagen. Vielmehr sollten wir darauf vertrauen, dass das mit großer Sorgfalt geplante Gebäude ein wertvoller Beitrag zur Baukultur und zur Beförderung der Verkehrswende sein wird.


Als angestrebter Fertigstellungstermin für den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof wird derzeit das Jahr 2025 kommuniziert. Dann wird aus dem 37-jährigen Wettbewerbsgewinner Christoph Ingenhoven ein 65-jähriger Architekt geworden sein. Also wahrlich ein Lebenswerk. Manchmal denke ich: zum Glück hat die Jury 1997 einen solch jungen Architekten ausgewählt!

Martin Bez, Freier Architekt BDA, Sommer 2023

Martin Bez | bez+kock architekten, Stuttgart

Martin Bez von bez+kock architekten, Stuttgart


Nach einer Mitarbeit bei Jourda & Perraudin Architectes in Lyon (1996 – 1997) und Kaag + Schwarz Architekten in Stuttgart (1997 – 2000) gründete er 2001 zusammen mit Thorsten Kock das Büro Bez+Kock Architekten. Von 2003 bis 2011 lehrte er an der Universität Stuttgart bei Thomas Jocher und Arno Lederer. Seit 2009 ist er als Preisrichter bei Architekturwettbewerben tätig. 2017 – 2018 übernahm er eine Vertretungsprofessur an der TU Darmstadt für das Fachgebiet Entwerfen und industrielle Methoden der Hochbaukonstruktion; seit 2021 zählt er zum Team der Gastprofessoren der aac Academy for Architectural Culture in Hamburg. Seit 2023 ist er Mitglied des Gestaltungsbeirats der Stadt Laupheim.