Gut ein Vierteljahrhundert später kommt man unvermeidlich ins Grübeln, ob Berlin nicht seine eigentliche Bestimmung verpasst hat, Stadt der Philosophie oder zumindest des philosophischen Städtebaus zu werden – statt bloß eine nordöstliche Großstadt, die von viel Land umgeben ist. So jedenfalls, wenn man das Statement des Siegers im „beschränkten städtebaulichen Ideenwettbewerb“ Landsberger Allee/Rhinstraße, Daniel Libeskind von 1994 liest: “Planung ist nicht länger nur eine Frage von Manifesten oder utopischen Nostalgien, die sich an die Vergangenheit oder Zukunft richten… Die städtebauliche Aufgabenstellung fordert Strategien, welche die Untrennbarkeit von Freiheit und Kontinuität, Form und Inhalt sowie Investition und Potential innerhalb eines vielschichtigen Rahmenwerks zum Ausdruck bringen. Diese Probleme lassen sich nicht mehr durch formalistische Ästhetik oder statische Systeme lösen. Sie müssen substantiell und qualitativ bearbeitet werden als Bestandteil einer sich evolutionierenden Kontur neuen Städtebaus, dessen Maßstab die verwandelte europäische Gegenwart ist.“ 

Uff, möchte man sagen, klingt ja gut, aber kann man es auch übersetzen? Nicht ins Pragmatische oder ins inkriminierte Formalistische sondern ins Verständliche? Was will eine evolutionierende Kontur sein? Und was sind utopische Nostalgien? Tant pis – man wird solch kritische Fragen als Beckmesserei abtun. Interessant bleiben sie gleichwohl angesichts der Vehemenz, mit der auch das Preisgericht sich für die Arbeit von Libeskind eingesetzt hat und der schnöden Tatsache, dass heute sich kaum einer des Wettbewerbs erinnert und zumal nicht, warum er, hoch dotiert, so sang- und klanglos unterging, nicht kassiert wurde, nicht umgesetzt, nicht überarbeitet oder sonst wie weiterverfolgt und bearbeitet wurde. Verschwunden im Mahlstrom der Zeit. Was war da los?

Die Landsberger Allee, früher auch mal Leninallee genannt, ist eine der großen Ausfallstraßen Berlins nach Osten, die riesigen Stadterweiterungen der DDR, Marzahn und Hellersdorf, liegen an ihrer Achse. Sie quert die „problematisch“ genannten Bezirke Lichtenberg und Hohenschönhausen mehrspurig und autobahnbreit und ist meist verstaut. Die Bebauung entlang dieser Achse „heterogen“ zu nennen, wie es im Auslobungstext des Wettbewerbs heißt, ist fast schon ein Euphemismus. Die Rhinstraße ihrerseits ist sehr viel jünger, stammt von der Jahrhundertwende und quert die Landsberger Allee in Nord-Süd-Richtung, ist mit 6 km ebenfalls riesig lang – kurz, zwei für die suburbanen Wohnviertel existenzielle Straßen Berlins.

Vor 25 Jahren bestand die hehre Absicht, an dieser Kreuzung „Stadt“ werden zu lassen oder zumindest dem immerhin 64 Hektar großen Areal eine städtebauliche Fassung zu verschaffen, damit eine Orientierung für eine weitere städtebauliche und architektonische Entwicklung geboten werde. Kurz zuvor war eines der damals höchsten Häuser Berlins, die Pyramide (rund 100m), an der Kreuzung gebaut worden; sozusagen wild east-Bebauung, die später erbärmlich Skandal und Pleite (beides!) machte, ein erster gebrochener Zacken in der Krone eines bedeutenden – na ja, großen! – Investors und Spekulanten. 

„Übergeordnetes Ziel ist die Ausprägung einer Adresse, eines Orts mit eigener Signifikanz am ‚Eingangstor‘ zum Stadtrand.“

„Übergeordnetes Ziel ist die Ausprägung einer Adresse, eines Orts mit eigener Signifikanz am ‚Eingangstor‘ zum Stadtrand.“ Immerhin setzte man das Wort seinerzeit in Anführung, was nicht erklärt, warum man nicht einfach Ausgang, notfalls -Tor wählte. Gleichviel, eingeladen wurden neun Teilnehmer, darunter neben Daniel Libeskind namhafte Büros wie Stephan Braunfels, Deubzer-König, Stefan Scholz (Bangert Scholz) oder Volker Theissen und Christoph Langhof. Die Dotierung war von DM 53.000 abwärts bis 21.000 üppig. Vier Hauptpreise wurden vergeben.

Und nachträglich wirkt es, als sei Libeskind von Anfang an als Sieger gesetzt gewesen. Das meint man jedenfalls der enormen Poesie im Begründungstext des Preisgerichts zu entnehmen: Vom „schwierigsten Problem im Städtebau Europas“ ist da die Rede, vom „spinnwebenartig zum integralen Bestandteil des Entwurfs“ werdenden öffentlichen Raum, der allerdings „überquert“ (nicht durchschritten oder durchfahren) werden soll. Der Entwurf baut auch „auf einer Kernstruktur von überlappenden städtischen Generatoren auf“, die ähnlich den Ringen sein sollen, „die entstehen, wenn man Kieselsteine in einen Teich wirft.“ Und schließlich nach dem alten Gesetz, dass die Wahrheit nahe ist, wenn die Dementis äußerst stark werden: „Es handelt sich hier keineswegs um eine anarchistische Situation, sondern um eine kontrollierte Raumflucht, die von angewinkelten Gebäuden und gebogenen Fassaden umgeben wird.“ Es reicht, wenn diese Raumflucht dann auch noch flexibel sein soll und natürlich offen. Trotz allfälliger Überschreitung vieler Programmvorgaben wurde der erste Preis erteilt und die Umsetzung empfohlen.

1. Preis Daniel Libeskind, Berlin

So viel Planungs-Poesie und Begründungs-Lyrik war wohl selten. Vielleicht kriegen Wissenschaftler und Historiker bei analytischen Recherchen raus, weswegen der Wettbewerb so folgenlos geblieben und klanglos untergegangen ist. Aus den zeitlichen und personellen Umständen erschlossen hier vorderhand zwei Hypothesen. Zu der Zeit kämpften zwei Senatsverwaltungen gegeneinander um das bauliche Wohl Berlins, die Stadtentwicklungsverwaltung des „linken Tory“ Volker Hassemer, die im Wettbewerb federführend war, zudem dem Modernismus „absolut“ oder „total“ verfallen. Auf der Gegenseite stand die Bauverwaltung von Wolfgang Nagel (SPD), der sich Hans Stimmann als urbanen Kämpfer und städtischen Überzeugungstäter ins Haus geholt hatte. Der stand für Blockrand und konventionelle Stadtstruktur, gegen alles „dekonstruktivistische“, das seinerzeit noch heftig in Mode war. Der Konflikt von Block(rand) und flexibler Struktur durchzieht die Argumentation der Wettbewerbsjury. 

Der berühmte Wettbewerb Potsdamer Platz 1991 (wa-id: 2000152) lag nicht lange zurück. Hier waren die Claims abgesteckt worden und Libeskind hatte eine Niederlage erfahren, deren Echo dank seiner sehr lauten Klage bis New York und anderswo reichte. Wahrscheinlich wollten Volker Hassemer und „seine“ Juroren Wolfgang Süchting, Günter Behnisch und Michael Kny hier Remedur schaffen, indem sie Libeskind auf den funkelnden Schild hoben. 

Die zweite Hypothese ist politisch. Wenig später erfolgte 1996 ein Koalitionswechsel in Berlin, der einen anderen Zuschnitt der Bau- und Stadtentwicklungsverwaltungen mit sich brachte. Hans Stimmann dirigierte fortan auch die Stadtentwicklung. Und er setzte strategisch um, dass die riesigen Einkaufszentren aus dem Weichbild der Stadt im Brandenburger Land zurück ins Stadtgebiet geholt werden. Die Gewerbe- und Unternehmenssteuer sollte nicht ganz den Brandenburgern überlassen, sondern auch für Berlin hinzugewonnen werden. Erfolgreich, denn genau an der Kreuzung Landsberger Allee/Rhinstraße entstand ein paar Jahre später ein großer Ikea-Markt – erstmals mit einer architektonischen Fassade von Léon Wohlhage Wernik (heute léonwohlhage).

So viel zur Interpretation. Heute drückt an dieser Stelle der städtische Schuh noch immer, es laufen Wettbewerbe zur Wohnbebauung im Umfeld, städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen mit Möbelhäusern und allenthalben wird beklagt, dass ein städtebauliches Ordnungssystem hier immer noch komplett fehlt.

Gerwin Zohlen 

Gerwin Zohlen
Gerwin Zohlen | © Erik-Jan Ouwerkerk

Gerwin Zohlen

Gerwin Zohlen studierte Literaturwissenschaft, Geschichte, Philosophie in Heidelberg und Berlin.
Er ist als Publizist, Architekturkritiker und Herausgeber tätig und hat Bücher, Essays und Artikel in den führenden Fach- und Öffentlichkeitsmedien, in Radio und Fernsehen veröffentlicht.
Er lebt und arbeitet in Berlin.
Seit 2019 ist er Gesch.ftsführer im Wasmuth & Zohlen Verlag Berlin.

Eine zeitreise mit Gerwin Zohlen in wa 8/2021