Totes Rennen

Die Berliner Zentral- und Landesbibliothek ist auf drei Standorte verteilt und soll künftig zusammengeführt werden. Die Standortsuche beschäftigte die Stadtöffentlichkeit intensiv. Schließlich wählte man ein Grundstück auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, dessen Flugfeld am Rand bebaut werden sollte. Kritiker bemängelten die periphere Lage, Befürworter die gute Verkehrsanbindung an U-, S- und Autobahn.
Zunächst gab es im April 2013 einen offenen Ideenwettbewerb (wa-ID: wa-2012725). Die Jury unter dem Vorsitz von Jórunn Ragnarsdóttir wählte daraus acht gleichrangige Preisträger, erfreulicherweise und wie erhofft durchweg aus jüngeren Büros. Sie wurden im darauffolgenden zweistufigen europaweiten Realisierungswettbewerb gesetzt.


1. Preis MOA – Miebach · Oberholzer Architekten, Zürich

1. Preis KohlmayerOberst Architekten, Stuttgart

Im Dezember 2013 wählte dasselbe Preisgericht aus 40 Arbeiten zwei erste und drei weitere Preise sowie sechs Anerkennungen. Da der städtebauliche Kontext wenig Vorgaben machte, lieferten die Architekten Lösungen von selten zu erlebender Vielfalt. Und da auch das Preisgericht dem Pluralismus zugeneigt schien, zeigte sich diese Vielfalt auch in den Preisrängen – und dies schon bei den beiden ersten Preisträgern. Neben dem nüchterngläsernen, neungeschossigen „Büroblock“ ohne besondere Ausstrahlung, der im Inneren freilich Freiheiten für differenzierte Raumnutzungen bietet (Miebach Oberholzer MOA, Zürich), steht das 260 Meter lange, kühn auskragende Betonschiff als Superskulptur (Kohlmayer Oberst, Stuttgart). 13 Geschosse ging Max Dudler in die Höhe, der einen für seine Verhältnisse ungewohnt skulpturalen, zum Flugfeld hin gar konkav ausgeformten Turmkörper anbot. Innen dann die schon von seiner Humboldt-Bibliothek bekannte ikonische Kaskadentreppe mit haushohem Lichtschacht. Der viertplatzierte Preisträger (wulf architekten, Stuttgart) konzentrierte sich noch intensiver auf einen spektakulären Innenraum und verlegte die Kaskadentreppe an die gläserne Südfront der Halle, deren Ostseite mit bewegten Podesten und mit den Balkonen der Bibliotheksgeschosse vielfältige Blickbeziehungen und Raumbezüge bietet. Eine blockhafte Struktur, ein strenges Grundriss- und Fassadenraster sowie uninspirierte schematische Matrixgrundrisse, die wenig Orientierung bieten, kam von Cruz y Ortiz aus Sevilla. Das Protokoll listet so viele Schwächen auf, dass die Einstufung als 5. Preis verwundern muss. Natürlich war auch der undifferenzierte gläserne Kubus (MARS + Uberbau, Stuttgart, Anerkennung), die ebenso ungegliederte 222 Meter lange, 14-geschossige Hochhausscheibe (Studio Motta-Stapenhorst, Bergamo, Anerkennung), eine ähnlich lange Scheibe, diesmal interessanter, weil aus hin- und hergeschobenen Geschossen locker gestapelt (Bär Stadelmann Stöcker, Nürnberg), der Versuch, bescheiden die Blockstruktur der geplanten Nachbarbebauung weiterzustricken (gmp, Berlin, Anerkennung) oder die „Keksdose“ als Großform mit eiförmigem Grundriss (Ortner & Ortner, Berlin, Anerkennung) im Angebot. Weniger an ein Gebäude, eher an einen Erzgüterwagen erinnert die Großform, die Thomas Kröger (Berlin, Anerkennung) vorschlug.

Den meisten Arbeiten gemein ist die aktuelle Tendenz, die Bibliothek als den „dritten Ort“ zu definieren, als sozialen Treffpunkt und Aufenthaltsort für die Stadtbevölkerung und als Rahmen für deren Aktivitäten, der über den monofunktionalen Ausleihbetrieb einer Stadtbücherei hinausgeht.

Ein reicher Fundus also an semantischen Ausdrucksformen und an funktionalen Lösungsansätzen, der für künftige Bibliotheksentwürfe Anregungen bereithält. Leider endete das Planungsvorhaben nach dem anschließenden VOF-Verfahren (wa-ID: wa-2013087), in dem MOB und Kohlmayer+ Oberst neuerlich zwei erste Preise errangen, weil am 25.05.2014, sechs Wochen nach dem Wettbewerb, per Volksentscheid eine Bebauung des Tempelhofer Feldes grundsätzlich ausgeschlossen wurde.

Als neuer Standort wurde der alte ins Auge gefasst: die Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg (1954, Architekten: Jobst, Kreuer, Wille, Bornemann), für deren Erweiterung es bereits 1988 einen folgenlosen Wettbewerb gegeben hatte (drei 1. Preise: Steven Holl, Lars Lerup, Karen van Lengen). Die Mühlen mahlen langsam. Es gab ein öffentliches Dialogverfahren vor Ort. Gegenwärtig werden die Grundlagen für einen Wettbewerb erarbeitet.

Falk Jaeger, Januar 2022

Falk Jaeger

Falk Jaeger

1971 – 1977 Studium Architektur und Kunstgeschichte in Braunschweig, Stuttgart und Tübingen, Promotion TU Hannover
seit 1976 freier Architekturkritiker
1983 – 1988 Assistent am Institut für Baugeschichte und Bauaufnahme der TU Berlin, Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen
1993 – 2000 Lehrstuhl für Architekturtheorie, apl. Professor TU Dresden
2001 – 2002 Chefredakteur bauzeitung
seit 2002 freier Publizist, Dozent, Kurator und Fachjournalist für Rundfunk, Tages- und Fachpresse in Berlin