Die Zauberschachtel

Der Lido di Venezia ist der mittlere, Venedig vorgelagerte Teil einer Nehrung, die von Chioggia bis Jesolo reicht und die Lagune von Venedig von der offenen Adria trennt. Dort befindet sich ein Areal, auf dem sich der denkmalgeschützte alte Palazzo del Cinema und der Palazzo del Casino befinden. Beide Teil einer Planung aus den 1930er-Jahren, die nie beendet und mehrmals verändert wurde. Die Halbinsel ist Austragungsort der jährlich stattfindenden Filmfestspiele von Venedig. Bereits 1991, anlässlich der fünften Architekturbiennale, war ein Wettbewerb durchgeführt worden, bei dem das Projekt des spanischen Architekten Rafael Moneo ausgewählt, jedoch aufgrund von zu hohen Baukosten nicht realisiert worden war.
Doch der Bedarf an neuen Räumen und der Wunsch, das gesamte Gebiet neu zu organisieren, hatten die Fondazione Biennale di Venezia dazu bewogen, 2004 einen weiteren Wettbewerb für einen neuen Palazzo del Cinema und für die Neuordnung der benachbarten Gebiete auszuloben. Am 26. Mai 2005 gab man schließlich das italienische Studio 5+1 architetti associati aus Genua in Zusammenarbeit mit dem französischen Architekten Rudy Ricciotti als Preisträger bekannt. Ihr Entwurf wollte den cineastischen, melancholischen Optimismus des italienischen Neorealismus zitieren: „Die Einsamkeit eines Gebäudes, wie eine Zauberschachtel, das etwas verbirgt und sich an einem Ort präsentiert, der abgelegen, aber gleichzeitig stark und magisch ist.“ Mit seinen glatten Oberflächen mit einer Beschichtung aus Kunstharz sowie erdfarbenen Naturmaterialien stand der Bau ganz im Gegensatz zum strengen faschistischen Klassizismus des Altbaus und dem spielerischen Modernismus des Vorbaus vom Palazzo del Cinema aus den 1950er-Jahren. Der Neubau wäre auf einer Seite vollständig zum Außenraum geöffnet gewesen, mit einer Glasfassade die an einen Libellenflügel denken lassen sollte, als Hommage an die Glasmeister aus Murano.


1. Preis 5+1 architetti associati & Rudy Ricciotti, Genua/Bandol
1. Preis 5+1 architetti associati & Rudy Ricciotti, Genua/Bandol

Am 28. August 2008 wurde der Grundstein für den neuen Palazzo del Cinema gelegt. Vier Kinos waren entworfen worden: Neben dem großen Saal mit 2400 Plätzen „Il Sasso“, waren drei weitere Säle für 320, 120 und 50 Zuschauer im Untergeschoss vorgesehen. Für die Baustelle wurden 132 Bäume gefällt: der Wald des Platzes aus inländischen Seekiefern, ein Teil des geschützten Casino-Gartens und eine Reihe von Steineichen. Die Finanzierung des Bauvorhabens war mit dem komplexen Verkauf des Ospedale al Mare del Lido an eine Seilschaft aus Investoren von EstCapital, Condotte und Mantovani verbunden. Im Mai 2011 befanden sich für den Bau des Palazzos gerade mal 38 von benötigten über 130 Millionen Euro in der Kasse. Kostendeckend wären 96 Millionen gewesen, die sich folgendermaßen zusammensetzen sollten: 32 vom Staat, 10 von der Region und 54 von der Stadt. Der Staat hatte seinen Anteil gezahlt, die Region hat lediglich 5 Millionen überwiesen und die 54 von der Stadt standen noch aus, weil das Krankenhaus immer noch nicht verkauft war. Doch der eigentliche Skandal war, dass die bereits gezahlten staatlichen Gelder in der Zwischenzeit an Politiker und Berater für die „Grandi Opere“ und für Empfänge in den Hotels Excelsior und Gritti ausgegeben worden waren. Das Versäumnis, den Verkauf abzuschließen und die Entdeckung von Asbest in der Baugrube 2011 bedeuteten schließlich den Baustopp. So verschwanden wie in einer Zauberschachtel nicht nur Verantwortliche, sondern vor allem Gelder, aber auch Bäume in diesem Projekt. Erst 2017 begrub man das Vorhaben endgültig und sanierte das Gebiet vor dem Casino, restaurierte einen Teil des Kiefernwaldes. 2018 schuf man eine neue Piazza del Cinema, die von C+S Architects gestaltet wurde und nun den Weg in eine bessere Zukunft weist.



Alexandra Apfelbaum | August 2022

Aexandra Apfelbaum

Alexandra Apfelbaum

Dr. Alexandra Apfelbaum ist seit 2009 als freiberufliche Kunst- und Architekturhistorikerin tätig. Seit 2018 hat sie die Vertretungsprofessur für Geschichte und Theorie von Architektur und Stadt an der Fachhochschule Dortmund inne.
Ihr Schwerpunkt sind Forschungen zu den Schnittstellen von Architektur und Kunst des 20. Jhs. mit Fokus auf NRW und der Nachkriegszeit. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Initiative Ruhrmoderne.
Jüngere Publikationen:
• JPK NRW. Der Architekt Josef Paul Kleihues in Nordrhein-Westfalen, hg. von Alexandra Apfelbaum, Silke Haps und Wolfgang Sonne, Dortmund 2019
• Von Stahlschachteln und Bausystemen. Zum Umgang mit Stahlbauten der Nachkriegszeit, hg. von Alexandra Apfelbaum und Silke Haps, Dortmund 2019.