Eine zeitreise mit Richard Scoffier
Nach der Jury-Entscheidung im Frühjahr 2007 lüftete das Kulturministerium feierlich das Geheimnis um das Wettbewerbsergebnis für die Pariser Philharmonie. In einem Saal im Parc de la Villette wurde die Öffentlichkeit eingeladen, zwischen den Wettbewerbsentwürfen mit ihren zum Teil auch irritierenden Modellen umherzuschlendern.
Darunter: ein Hügel aus Aluminium, eine geometrische Form in reliefartiger Hülle, ein großes Betonband, das sich um sich selbst windet (vermutlich als ein Symbol der Unendlichkeit), ein schuppiger, sich buckelnder Drache, ein Eisberg, der offenbar seiner Eisscholle entwichen ist …
Die Projekte von Jean Nouvel, MVRDV, Christian de Portzamparc, Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Francis Soler hatten alle etwas gemeinsam: Ohne klassischen Sockel geschweige denn einer klassischen Fassade schienen sie gleichsam zufällig hier gelandet, aber jederzeit bereit wieder wegzuschweben.
Diese ungewöhnlichen Architekturen waren zweifellos auch dem Standort geschuldet, der für die neue Pariser Philharmonie gewählt wurde: Es handelte sich nämlich nicht um ein innerstädtisches Grundstück (wie bspw. die Opéra Garnier oder das Théatre des Champs Élysee), sondern um eine ziemlich verschwommene Fläche in dem von Bernard Tschumi entworfenen Parc de la Villette, an der Grenze der französischen Hauptstadt, auf dem Gelände der ehemaligen Schlachthöfe von La Villette. Ein Fragment Natur, könnte man sagen, drumrum Infrastrukturen wie der Ourcq-Kanal und die Ringautobahn.
Ein weiterer Grund für die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Entwürfe waren formale Zwänge: 2.400 Plätze, gekoppelt an einen Maximalabstand von 32 Metern zum Orchester für die am weitestens entfernten Plätze. Ein knechtendes Doppelgebot, das von Anfang an das bei Akustikern beliebte Schuhkartonmodell zugunsten der von Hans Scharoun für die Berliner Philharmonie erfundenen wabenähnlichen Anordnung verworfen hatte. Darüber hinaus sollte das Gebäude absolut licht- und schalldicht sein. Demnach Voraussetzungen für die Entwicklung eines zeitlosen Raums, der nicht vom Rhythmus der Tage und Nächte beeinflusst wird und womöglich daher gleichsam losgelöst erscheint.
Das kommt bei allen sechs Entwürfen sehr deutlich zum Ausdruck, weshalb man neben dem 1. Preis, der schließlich realisiert wurde, auch die Alternativen nicht vergessen sollte, verfügen sie doch allesamt über ein enormes Inspirationspotenzial. Denn so, wie das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Museen war, wird das 21. Jahrhundert vermutlich das der Philharmonien sein (vgl. zuletzt allein in München: Konzerthaus München (2017/12; wa-id: 2014322), Generalsanierung Gasteig (2018/07; wa-id: 2021461), Isarphilharmonie (2021/12; wa-id: 2032540)). Orte also, die es den Ohren ermöglichen wollen, wie Gustav Mahler prophezeite, bisher unhörbare Klänge und Musik zu erfassen.
Schauen wir uns alle Entwürfe deshalb genauer an: Jean Nouvel, ein Schüler von Paul Virilio und Claude Parent: Im Schnitt kann man erkennen, wie der große Saal gleichsam wie ein Embryo im runden Bauch der Mutter schwebt, während das Modell eine große tektonische Zerklüftung zeigt. Die von MVRDV vorgeschlagene große Metallhülle ist ein begehbares Dach, das dem Publikum einen direkten Zugang zu den verschiedenen Sälen von oben ermöglicht. Christian de Portzamparcs Projekt zeigt sich dagegen deutlich urbaner: Sein Entwurf besteht aus zwei Teilen, die unter einem verbindenden Dach zusammengefasst sind, um dem Maßstab seiner Cité de la Musique zu entsprechen, die 1995 am Eingang des Parks errichtet wurde. Andere entwickelten rätselhaftere, in sich geschlossenere Objekte: Zaha Hadid eine für sie typische organische Form, hier in einer Art Schuppenkostüm; Coop Himmelb(l)au schier schwebende Blockelemente, die an die der Wotrubakirche in Wien erinnern und von einer Art Gewächshaus (groß, seltsam zerklüftet, gläsern) geschützt werden. Francis Soler schließlich schlug Hügelkuppeln unterschiedlicher Art vor, die ineinander verschachtelt sind. Die Pariser Philharmonie nach Jean Nouvels Entwurf ist seit 2015 geöffnet und hat ihre ganz eigene Liturgie: So muss das Publikum das Stadtzentrum verlassen, den kalten Winterwinden trotzen und zunächst den Park durchqueren. Im Innern folgt dann eine Art religiöse Andacht in Form eines au ergewöhnlichen akustischen Erlebnisses. Nach der Aufführung tritt man heraus und verlässt die Philharmonie in einer Prozession über die lange Rampe, die der Kurve der Straße folgt. Hier können die Zuhörer*innen nun wieder – wie eine neue Musik – die Geräusche der dort unentwegt hin- und herbrausenden Motorräder, Autos und Lastwagen hören, die dort tagein tagaus erklingen: auf diesem großen Autoring, der nicht nur eine x-beliebige Autostraße einer einfachen Großstadt sondern längst Teil eines unendlich verstädterten Gebiets ist.
Richard Scoffier, Oktober 2021
Richard Scoffier ist Architekt und unterrichtet an der französischen Elite-Universität École Nationale Supérieure d’Architecture in Paris-Val de Seine.
Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in den französischen Zeitschriften D’A und Archiscopie.
Außerdem gibt er im Rahmen der von ihm gegründeten Université Populaire jedes Jahr Kurse im Pavillon de l’Arsenal, dem Pariser Zentrum für Architektur und Städtebau.