Am 22.07.1990 verabschiedete die Volkskammer der DDR das Ländereinführungsgesetz zur Bildung von Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Gemäß Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR wurden diese Länder am 03.10.1990 Teil der Bundesrepublik Deutschland. Am 14.10.1990 fanden dort Landtagswahlen statt, 14 Tage später konstituierten sich die Parlamente. Wenige Monate später lud der Freistaat Sachsen zwölf sächsische Architekten zu einem Wettbewerb für den Sitz seines Parlaments ein. Das Preisgericht vergab am 28.05.1991 den 1. Preis an Peter Kulka, der den Schlüssel zum fertiggestellten Plenarsaal am 12.02.1994 übergab. Welch atemraubendes Tempo!


Sächsicher Landtag Dresden 9/19911. Preis Prof. Peter Kulka, Dresden/Köln


Die harten Fakten der Aufgabenstellung verlangten neue, dauerhafte Räume für Arbeit und Betrieb des provisorisch untergebrachten Parlaments, die Einbeziehung eines 1928 bis 31 als Finanzamt errichteten Gebäudekomplexes und die Einfügung neuer Gebäudeteile in die berühmte Stadtsilhouette am Dresdner Elbufer. Zur Aufgabe gehörte aber auch die Frage, wie Demokratie im Allgemeinen sowie im besonderen Falle eines frisch erschaffenen Bundeslandes ihren architektonischen Ausdruck finden kann.
Der Wettbewerb und sein Ergebnis stehen im Kontext der jüngeren Geschichte westdeutscher Parlamentsbauten. Nachdem sich Bonn als Stadt des Bundes vom Provisorium zu einer Dauerlösung zu entwickeln schien, gewann Günter Behnisch 1974 den Wettbewerb „Bundesbauten in Bonn“ (wa-id: 2028271) mit einem Konzept, dessen Leichtigkeit sowohl Ausdruck der westdeutschen Bescheidenheit als auch eines neuen Verständnisses der Architektur öffentlicher Bauten war. Behnisch und Partner schlugen auch vor, die Abgeordneten in Kreisform im Plenarsaal zu versammeln. Während sie sich in der Folge bemühten, ihre Vorstellungen umzusetzen, wurden sie von Fritz Eller überholt, der 1980 den Wettbewerb für den Landtag von Nordrhein-Westfalen (wa-id: 2030586) gewann und den nur aus Kreisformen bestehenden Parlamentsneubau bis 1988 fertigstellte.
Der gebürtige Dresdner Peter Kulka kannte diese Entwicklungen, denn er war ab 1965 nach Studium in Weißensee und Mitarbeit bei Hermann Henselmann in Westdeutschland tätig. Sein Wettbewerbsentwurf für den Sächsischen Landtag sticht heraus. Der Plenarsaal schließt den Gebäudekomplex an der Elbefront kompositorisch sicher als spannungsvolles Gegenüber des Turms der Bestandsbebauung ab. Die Menschen werden vom Haupteingang in einem langgestreckten, elegant leichten Volumen zum Saal geführt. Der Mittelpunkt der kreisförmigen Bestuhlung ist aus dem Mittelpunkt des zylindrischen Raumes gerückt wie auch beide Mittelpunkte sich nicht mit dem Schwerpunkt des quadratischen Daches decken. Es galt, herrschaftlich wirkende Axialität zu vermeiden.

Der Entwurf stammt von einem erfahrenen Wettbewerbsarchitekten. Gekonnt wird die Forderung nach dem Erhalt der seltsam achteckigen Kantine verbal statt zeichnerisch erfüllt, indem die langfristig angestrebte Hofsituation dargestellt wird. Die Zeichnungen sind in kleinerem Maßstab angefertigt, am Kopierer mit Folien angereichert und auf den Abgabemaßstab hochkopiert – so wie man es seinerzeit machte. Und heute nennt man es referentielles Entwerfen, wenn architektonische Vorbilder Einfluss in den Entwurf finden: Das Dach des Plenarsaals verweist auf Mies‘ Nationalgalerie, deren Bau Kulka als Mitarbeiter an Scharouns benachbarter Philharmonie verfolgt hat, und die Eingangsgeste könnte als Hommage an Günter Behnisch verstanden werden.
Die übrigen prämierten Entwürfe wirken weniger wagemutig und kraftvoll, wenn auch die Zeichnungen des 2. Ankaufs größte Chuzpe aufweisen. Offenbar haben die rangierten Projekte zwar die konkreten Anforderungen der Aufgabenstellung gut erfüllen können, nicht aber die Frage nach dem architektonischen Bild der jungen sächsischen Demokratie. Kulka hingegen ist dies überzeugend gelungen, und das nicht nur mit dem Wettbewerbsentwurf, sondern auch mit der innerhalb kürzester Zeit
gebauten Realität.

Ansgar und Benedikt Schulz im Mai 2022


Ansgar und Benedikt Schulz | © Jasmin Schuller

Ansgar Schulz


* 1966 in Witten/Ruhr
· 1985 bis 1992 Studium der Architektur an der RWTH Aachen und der ESTA de Madrid
· Seit 1990 Mitglied bei Schalke 04
· 1992 Gründung des Büros Schulz und Schulz mit seinem Bruder in Leipzig
· 2002 Berufung in den BDA, 2015 in den DWB, in den Konvent der Bundesstiftung Baukultur 2010, 2016, 2018 und 2022,
seit 2016 Mitglied im wiss. Beirat des Dt. Institut für Stadtbaukunst
· Nach Professuren an der TU Karlsruhe und der TU Dortmund seit 2018 Professor für Entwerfen und Konstruieren an der TU Dresden

Benedikt Schulz


* 1968 in Witten/Ruhr
· 1988 bis 1994 Studium der Architektur an der RWTH Aachen und der UC de Asunción/Paraguay
· Seit 1990 Mitglied bei Schalke 04
· 1992 Gründung des Büros Schulz und Schulz mit seinem Bruder in Leipzig
· 2002 Berufung in den BDA, 2010 an die Sächsische Akademie der Künste, 2015 in den DWB,
seit 2016 Mitglied im wiss. Beirat des Dt. Institut für Stadtbaukunst
· von 2010 bis 2018 Professor an der TU Dortmund, seit 2018 Professor für Entwerfen und Konstruieren an der TU Dresden