Verpasste Verkupplung

Die gläserne Kuppel auf dem runderneuerten Reichstagsgebäude ist das Symbol der „Berliner Republik“. Sie ist Ergebnis eines Wettbewerbs zum Umbau des Reichstags zum Deutschen Bundestag aus dem Jahre 1992, der dem denkmalgeschützten Gebäude von Paul Wallot aus dem Jahre 1894 inklusive der Sanierungen durch Paul Baumgarten in den 1960er-Jahren ein neues Gesicht geben sollte. Konkrete Forderungen in Bezug auf den Umgang mit dem Bestand wurden schon im Februar 1992 auf dem Reichstagskolloquium formuliert, wo Planer, Historiker und Politiker zu Folgendem rieten: „Die Geschichtlichkeit des Baus soll durch den Verzicht auf die Rekonstruktion der Kuppel bewahrt werden.“ In der Ausschreibung des Wettbewerbs formulierte man es dann doch offener. So wurde von den Entwürfen zur Umgestaltung lediglich erwartet, dass ihr Umgang mit dem historischen Bauwerk nicht von „ängstlicher Vorsicht“ oder engen „Restaurierungsbemühungen“ geprägt sei. Interessante Formulierungen, wenn es um die Frage nach der Wiederherstellung der verloren gegangenen Kuppel geht. Da verwundert es nicht, dass der spanische Architekt Santiago Calatrava als einziger Teilnehmer eine Kuppel vorschlug, während Sir Norman Foster den Reichstag unter ein von 50 Meter hohen Stelzen getragenes Glasdach stellte oder der Holländer de Bruijn eine an eine Brasilia erinnernde Lösung entwickelte.

1. Preisgruppe  Sir Norman Foster & Partners, London


Am Ende konnte sich das Preisgericht nicht einigen und setzte im Januar 1993 Foster, Calatrava und de Bruijn gemeinsam auf den ersten Platz und forderte sie zur Überarbeitung ihrer Entwürfe auf. Nach der Überarbeitungsphase sprach sich der Ältestenrat des Bundestags schließlich im Juli 1993 für Foster aus, doch nicht umfassend für sein Konzept, auch wenn der überdimensionale Baldachin zugunsten einer Aussichtsterrasse verschwunden war. Auf Drängen verschiedener politischer Akteure, aber besonders der CDU/CSU-Fraktion, forderte der Ältestenrat sehr zum Ärger Fosters nun doch eine Kuppel. Obwohl dieser in seinem Erläuterungsbericht ausdrücklich betont hatte, das Niveau des Daches nicht künstlich anzuheben, „weder in Form einer neuen Kuppel noch in Gestalt eines Schirms“, so musste er seine vorgeschlagene Lösung revidieren und gezwungenermaßen 27 Varianten einer Glaskuppel entwickeln, bis schließlich ein Konsens gefunden wurde.
Daraufhin erhob der im Wettbewerb auf der Strecke gebliebene spanische Architekt Santiago Calatrava Plagiatsvorwürfe, die er zusätzlich mit einem Gutachten untermauerte. Er sah sich um die Urheberschaft für die neue Kuppel betrogen. Was zunächst wie ein klassischer Architektenstreit im Rahmen eines Wettbewerbsverfahrens anmutet, belegt vielmehr Eingriffe der Politik in die Entwurfsarbeit nach unzureichender Ausschreibungsvorbereitung. Denn der ausgebrochene Urheberrechtsstreit um die Kuppellösung ist nicht Calatrava anzulasten, sondern eindeutig dem Bauherrn. Dieser ist nicht sensibel mit der Aufgabe eines derartigen Wettbewerbs, aber vor allem nicht entschieden genug mit den vorgeschlagenen Ideen umgegangen. Nachdem diese vorlagen, wäre es nur fair gewesen, hätte man beide Architekten nach der ersten Runde miteinander „verkuppelt“ und ihnen gemeinsam den Auftrag gegeben – Calatrava für die Kuppel und Foster für den Umbau.
Zweifellos präsentiert sich die heutige Kuppel vollkommen anders als die im Entwurf von Calatrava. Und für eine bloße Idee greift wohl kaum das Urheberrecht. Allerdings hätte man vom Auslober und Bauherrn erwarten können, bei einer derart bedeutenden Ausschreibung die Frage, ob der Bau wieder eine Kuppel erhalten soll oder nicht, im Vorhinein zu klären und klar Position zu beziehen. Man hätte sich der Tragweite einer solchen Entscheidung und der Symbolkraft der Kuppel bewusst sein
können – wie offenbar Calatrava, der in seinem Erläuterungsbericht formulierte, was heute selbstverständlich erscheint: „Der Reichstag erhält seine historische Bestimmung zurück. Ausdruck findet dies in der Neuinterpretation des historischen Zentralbaus durch eine zeitgenössische Kuppelkonstruktion. Diese gibt dem Gebäude sein Wesen zurück.“


Alexandra Apfelbaum | Dezember 2022


Aexandra Apfelbaum

Alexandra Apfelbaum

Dr. Alexandra Apfelbaum ist seit 2009 als freiberufliche Kunst- und Architekturhistorikerin tätig. Seit 2018 hat sie die Vertretungsprofessur für Geschichte und Theorie von Architektur und Stadt an der Fachhochschule Dortmund inne.
Ihr Schwerpunkt sind Forschungen zu den Schnittstellen von Architektur und Kunst des 20. Jhs. mit Fokus auf NRW und der Nachkriegszeit. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Initiative Ruhrmoderne.
Jüngere Publikationen:
• JPK NRW. Der Architekt Josef Paul Kleihues in Nordrhein-Westfalen, hg. von Alexandra Apfelbaum, Silke Haps und Wolfgang Sonne, Dortmund 2019
• Von Stahlschachteln und Bausystemen. Zum Umgang mit Stahlbauten der Nachkriegszeit, hg. von Alexandra Apfelbaum und Silke Haps, Dortmund 2019.