Ein Kommentar von Prof. Dörte Gatermann (Vorsitzende des Preisgerichts)
Was für eine Aufgabe!
Der Ideenwettbewerb Weissenhof 2027 stellt zum einen die Frage, wie wir in Zukunft bauen und leben wollen, und zum anderen die Aufgabe, ein Empfangsgebäude für die IBA 2027 und eine Erweiterung der Akademie zu verorten und darüber hinaus einen verbindende Freiraum zu schaffen (wa-ID: wa-2033125).
Nach 100 Jahren Weissenhofsiedlung werden diese Fragen im Hinblick auf das Weltkulturerbe und die Ziele der IBA 2027 kontrovers gesehen. Einerseits ist das Welterbe schützenswert und hat einen musealen Charakter. Gerade weil die damals gestellten Fragen und Antworten zum Bauen wegweisend waren, sind sie an diesem Ort heute eine besondere Herausforderung. Auf der anderen Seite zeigt die geforderte Erweiterung der Akademie einen hohen Flächenbedarf und entspricht damit der vorhandenen großen Körnung dieses anschließenden Areals, das im Schutzraum der Weissenhofsiedlung liegt.
Es war also nicht verwunderlich, dass die 35 Teams aus dem Bereich Architektur, Stadtund Landschaftsplanung, die sich der Aufgabe stellten, eine große Bandbreite an Vorschlägen unterbreitet haben. Zwei Tage diskutierten die 50 Anwesenden in der Jury lebhaft über Grundsatzthemen des Bauens für die Zukunft bis zur möglichen Realisierung der Hochbauten bis 2027.
Nachdem fast alle Arbeiten einen großen Respekt vor der Weissenhofsiedlung zeigten und dort nur wenige zurückhaltende Eingriffe vornahmen, konzentrierte sich die denkmalpflegerische Diskussion auf die Schlüsselposition des Besucherinformationszentrums. Die Lage im südlichen Bereich des Wettbewerbsgebietes war festgelegt. Höhe, Ausdehnung und Distanz zum historischen Akademiegebäude und zur Siedlung sowie die Nutzung der Geländemodulation waren freigestellt und zeigten die unterschiedliche Sichtweise zwischen den Extremen „Nichtbebauung sondern Hain“ und „Volumen auch für die Akademie“. Eine Nutzung in 2027 für eine Million erwarteter Besucher*innen sollte genauso berücksichtigt werden wie die Zeit danach mit öffentlichen und akademischen Nutzungen.
Die Erweiterungsflächen für die Akademie mit 12.000 m2 orientierten sich am Bedarf und dem Maßstab der großformatigen Bestandsgebäude. Ihre Unterbringung war eine städtebauliche Herausforderung, der nur ein Viertel der Ideenentwürfe gerecht wurde. Es zeigte sich zudem die Notwendigkeit einer nordöstlichen Verbindung durch den Campus mit gut nutzbaren Platzflächen wie auch die Möglichkeit einer größeren Höhe an dieser Ecke. Der Umgang mit der Stresemannstraße, die bisher als Rückseite auftritt und eine unbefriedigende räumliche Situation darstellt, wurde an wenigen Arbeiten, die darauf eingingen, diskutiert. Dieses gilt auch für die Brenzkirche, die nur eingebunden werden kann, wenn in ihrem Vorfeld eine Platzsituation geschaffen wird, was eine Veränderung des vorgelagerten Verkehrs voraussetzt.
Die zwei Anerkennungen und fünf Preise spiegeln die Vielzahl der zu berücksichtigenden Parameter wider und auch den Stand der heutigen Debatte zum Bauen. Urbane Collage wie Missing Links sind ein Ansatz, die Nutzung der grauen Energie durch Aufstockungen ein anderer. Kleine Interventionen mit geringem Bodenverbrauch, Materialwahl und Kreislaufbetrachtung gehören dazu, aber auch weit über das Wettbewerbsgebiet hinausgehende energetische und ökologische Ansätze. So spannt sich das Ergebnis zwischen Stadtreparatur und einer Vielfalt an Ansätzen zum nachhaltigen Bauen auf.
Als Ergebnis des Ideenwettbewerbs sind der Jury über die Preisfindungen hinaus die folgenden Empfehlungen wichtig: Dem Freiraum kommt als verbindendes und zu differenzierendes Element eine große Rolle zu. Die Umgestaltung des Verkehrsraums zum Stadtraum ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Anbindung und Einbeziehung der Brenzkirche gelingen kann. Der Weissenhof sollte perspektivisch als autofreie Siedlung konzipiert werden. Die Stresemannstraße benötigt eine Aufwertung. Das Besucherinformationszentrum muss zwischen den unterschiedlichen Maßstäben vermitteln und offensiv in Gestalt und Funktion einladen, auch über das IBA-Jahr 2027 hinaus. Im konstruktiven Umgang mit dem Bestand der Akademie sollte die graue Energie Berücksichtigung finden. Das Potenzial der Hangkante mit punktuellen Aussichtspunkten sollte in den Blick genommen werden, genauso wie die weiteren Anbindungspotenziale ins Umfeld.
Nach einem Ideenwettbewerb kommen die Realisierungswettbewerbe. Hierfür ist das Ergebnis dieses Wettbewerbs eine gute Grundlage. Es ist aber auch ein schnelles weiteres Handeln nötig, wenn innovative Gebäude entstehen sollen, die wie vor 100 Jahren Antworten zum Bauen der Zukunft geben wollen. Einhoher Anspruch und das mit dem Druck einer Realisierung bis 2027 – was für eine neue Herausforderung!
Prof. Dörte Gatermann
Dipl. Ing. Architektin BDA
Gesellschafterin SUPERGELB ARCHITEKTEN
Dörte Gatermann, die seit 1990 als Jurymitglied und Vorsitzende in mehr als 250 Architekturwettbewerben mitwirkte, wurde 1956 in Hamburg geboren. Nach dem Architekturstudium an der TU Braunschweig und der RWTH Aachen war sie von 1981 – 1985 Projektleiterin im Büro von Prof. Gottfried Böhm.1984 gründete sie mit Elmar Schossig das Architekturbüro Gatermann + Schossig in Köln, das mehr als 160 Wettbewerbserfolge und Architekturpreise erhielt. Von 2002 – 2007 war sie Universitätsprofessorin an der TU Darmstadt. Sie war von 1989 – 1998 Vorstandsmitglied des BDA-Köln, wurde von 2011 – 2015 in den Gestaltungsbeirat Karlsruhe, 2012 – 2017 ins Berliner Baukollegium und seit 2017 in den Gestaltungsbeirat Stuttgart als Mitglied berufen.
Nach dem Tod von Elmar Schossig leitet sie seit 2012 mit Sven Gaeßler das Büro Gatermann + Schossig, das 2017 mit Jan Rübenstrunk als Partner ergänzt wurde und seit 2020 unter dem Namen „SUPERGELB ARCHITEKTEN“ firmiert.