Neue Erhabenheit – Wiederaufbau Neues Museum, Berlin

Endlich, sagten viele, als der Träger des Pritzker-Preises 2023 verkündet wurde: Sir David Alan Chipperfield. Der heute 60-jährige Londoner Architekt war mit dem Umweg über Deutschland zum international geachteten Stararchitekten geworden. Für ihn, der zuvor in Berlin lediglich ein Wohnhaus in Spandau und ein Apartmenthaus des Beisheim Centers am Potsdamer Platz gebaut hatte, begann mit dem Neuen Museum eine erstaunliche Erfolgsgeschichte in der deutschen Hauptstadt und die Verlagerung seines Arbeitsschwerpunkts an die Spree. (Das hat, nebenbei bemerkt, auch damit zu tun, dass Stararchitekten von Amerika bis Japan die deutsche Bauqualität schätzen).
Dabei sah es anfangs nicht danach aus, denn den 1994 ausgeschriebenen Wettbewerb zum Wiederaufbau der Ruine des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel hatte Giorgio Grassi für sich entschieden, mit eindeutiger Bauempfehlung durch das Preisgericht. Aber entweder hat ein Jurymitglied den Beurteilungstext verfasst, der mit der Entscheidung nicht einverstanden war, oder der Text gibt die doch wohl positive Stimmung in der Jury nicht korrekt wieder. Insbesondere scheint die räumliche Ausprägung des Eingangsbereichs nicht überzeugt zu haben.
Chipperfield als zweitem Preisträger, der als Einziger für eine Rekonstruktion des Neuen Museums plädierte, schlug einen Neubau vor dem Neuen Museum entlang des Kupfergrabens vor und löste damit die Aufgabe des neuen Eingangs und der Erschließung der Museen. Ein mit Opakglas verkleideter Kubus sollte es sein, der die klassizistischen Nachbarn an sanfter Eleganz übertreffen sollte (wa-2025737).

Modellfoto | 2. Preis / Realisierung  David Chipperfield Architects, London


Der Drittplatzierte Francesco Venezia, an Carlo Scarpa und an der Tessiner Schule um Luigi Snozzi orientiert, hatte räumliche, „suggestive Reize“ mit funktionalen Mängeln und zu wenig Nutzflächen erkauft. Er war damit aus dem Rennen in der weiteren Diskussion, denn die entbrannte und wurde intensiv und erbittert geführt, und zwar zwischen den Parteigängern Chipperfields und Frank Gehrys, der den vierten Preis errungen hatte. Der Kalifornier schlug vor, das Neue Museum ganz harmlos in seiner ursprünglichen Kubatur zu ergänzen, um dann hinter ihm und davor entlang des Kupfergrabens einen schwarzen Kaaba-ähnlichen Kubus und vier rundliche Bauteile hinzuwürfeln, die in ihren Blähformen an Magenbrot oder an Sandkastenförmchen erinnern. Gehry hatte zwar am Pariser Platz bewiesen, dass er Berlin kann, aber dieser nach Gehry-Art provokative Entwurf hatte so gar nichts mit dem klassizistischen Ambiente zu tun. Damit gewann er zahlreiche Anhänger, darunter auch Museumsleute, die auf den Bilbao-Effekt spekulierten. Sie alle erhofften sich ein Aufbrechen der verkrusteten lokalen Architekturszene um Hans Stimmanns „steinernes Berlin“, wurden aber letztlich überstimmt. Chipperfield erhielt den Vorzug, konnte das Neue Museum ergänzen und revitalisieren und letztlich das neue Eingangsgebäude, die James-Simon-Galerie, realisieren, in gänzlich anderen Formen als der Wettbewerbsentwurf allerdings. Ein Glücksfall, wie man heute weiß, und ein Glücksfall dazu, dass der Museumsinsel das respektlose Gehry-Spektakel erspart geblieben ist.
Sucht man im wa-Archiv nach weiteren Erfolgen Chipperfields, so ploppt u. a. der Wettbewerb Literaturmuseum der Moderne,  Marbach von Ende 2001 auf (wa-2005833). Auch hier hatte er nicht den Sieg davongetragen (es gab keinen 1., sondern zwei 2. Preise) und sogar nur den 4. Preis errungen, aber letztlich den Bauauftrag erhalten. Und auch hier muss man sagen: ein Glücksfall. Die Jury war sich wegen der „Erhabenheit“ des Entwurfs in die Haare geraten, formulierte die Beurteilung aber als wahre Eloge. Als das Museum 2006 eingeweiht wurde, erwies sich die Erhabenheit als vornehme Eleganz. Die eng getakteten Pfeilerreihen aus beigem, mit dem örtlichen Muschelkalk versetzten Beton machen es zur Erscheinung der „Akropolis der Literatur“ über dem Neckartal. Eine architektonische Verheißung, die sich durch die wunderbaren und zur Ausstellung der empfindlichen Artefakte perfekt nutzbaren Innenräume erfüllt.

Falk Jaeger, Sommer 2023

Falk Jaeger | freier Architekturkritiker


Falk Jaeger

1971 – 1977 Studium der Architektur und Kunstgeschichte in Braunschweig, Stuttgart und Tübingen, Promotion TU Hannover
seit 1976 freier Architekturkritiker
1983 – 1988 Assistent am Institut für Baugeschichte und Bauaufnahme der TU Berlin, Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen
1993 – 2000 Lehrstuhl für Architekturtheorie, apl. Professor TU Dresden
2001 – 2002 Chefredakteur bauzeitung
seit 2002 freier Publizist, Dozent, Kurator und Fachjournalist für Rundfunk, Tages- und Fachpresse in Berlin